Eine Sandschliere auf dem Fenster, ein vorüberschwebendes Flimmerhaar oder der Schwirrflug eines Vogels: Solche kleinen, ephemeren Dinge und Ereignisse sind der Testfall für das Sensorium eines Dichters. Sie stehen im Zentrum von Jürgen Nendzas poetischer Aufmerksamkeit. Er tastet sich in sorgsamer Beobachtung an die Dinge heran und befreit in einem ersten Schritt die Wahrnehmung aus den Fesseln ihrer Konditionierungen – eine Voraussetzung für gute Poesie.
Jürgen Nendza, 1957 in Essen geboren, lebte viele Jahre in Aachen, das Dreiländereck an der Grenze zu den Niederlanden und zu Belgien ist ein guter Ort für poetische Grenzüberschreitungen. Seit seinem lyrischen Debüt vor 30 Jahren mit dem Band „Glaszeit“ (1992) interessiert sich Nendza für die geschichtlichen Metamorphosen von Landschaften. Sein präziser Blick auf die Naturphänomene ist dabei immer verbunden mit einer historischen Perspektive, Nendzas Gedichte eröffnen stets Wege, die in eine geschichtlich versehrte Topographie führen.
Das Geschichtsgelände, das wir in seinem neuen Gedichtbuch „Auffliegendes Gras“ (2022) betreten, ist eine heillose Gegend. Das Ich, das hier durch die vom Bergbau völlig veränderte Landschaft des Ruhrgebiets geht, registriert „das Malmen/ aus der Tiefe, aus/ dem Kolossalen“. Natur ist für den Autor kein idyllischer Rückzugsort mehr, kein locus amoenus wie einst in der klassisch-romantischen Dichtung, sondern ein von „Rüttelverdichtung“ und „schaufelnden Schaufeln“ strapaziertes Territorium, eine industriell „ausgekohlte“ Welt. Gegen Ende des Buches kommt die Frage auf: „Was wird aus der Windstille jetzt?“ Sie bezeichnet den Augenblick der Erwartung, in dem Nendzas kunstvoll gewebte Gedichte die Dinge in ein neues Licht rücken, so dass sie von sich aus zu strahlen beginnen. (M. B.)
Veröffentlichungen (Auswahl):
– „Glaszeit“, Gedichte, Atelier-Verlag, Andernach 1992
– „Finistère“, Gedichte, Atelier-Verlag, Andernach 1993
– „Landschaft mit Freizeichen“, Gedichte, Landpresse, Weilerswist 1996
– „und am Satzende das Weiß“, Gedichte, Rimbaud, Aachen 1999
– „Die kleine Frau Marie“, Erzählungen, Horlemann, Bad Honnef 2000
– „Eine andere, eine Nacht“, Erzählung, Landpresse, Weilerswist 2002
– „Haut und Serpentine“, Gedichte, Landpresse, Weilerswist 2004
– „Die Rotation des Kolibris“, Gedichte, Landpresse, Weilerswist 2008
– „Apfel und Amsel“, Gedichte, Poetenladen, Leipzig 2012
– „Mikadogeäst. Gedichte aus 20 Jahren“, Poetenladen, Leipzig 2015
– „Picknick“, Gedichte, Poetenladen, Leipzig 2017
– „Wir treffen uns im Apfel“, Gedichte, Ulrich Keicher, Warmbronn 2018
– „Auffliegendes Gras“, Gedichte, Poetenladen, Leipzig 2022