Katerina Poladjan gelingt mit „Zukunftsmusik“ ein mitreißender Rundumblick in einem kleinen Kosmos, der vom großen Ganzen erzählt. Der Roman spielt am 11. März 1985. Irgendwo in Sibirien, tausende Kilometer östlich von Moskau, leben vier Frauen in einem einzigen Zimmer einer Komunalka. Aus dem Radio tönt der Trauermarsch von Chopin – es ist der Todestag des Parteichefs Tschernenko. Dass mit seinem Nachfolger Michail Gorbatschow auch das Ende der Sowjetunion begann, konnte noch keiner ahnen. „Zukunftsmusik“ rückt wie auf einer Drehbühne jede Figur nach vorne. Da ist zum Beispiel Janka, 20 Jahre alt, die von einer Karriere als Musikerin träumt und eine kleine Tochter hat, Kroschka, die von ihrer Großmutter und Urgroßmutter mit aufgezogen wird. Maria Nikolajewna, Mitte 40, arbeitet als Aufseherin im Museum für Naturkunde und bewacht dort ein Mammut und ausgestopfte Lemminge, während Warwara Michailowna, die älteste der Frauen, mehr Privatleben hat als man ihr zutraut. So nah diese Frauen sich räumlich sind, so viel Distanz liegt doch zwischen den Generationen.
Katerina Poladjan erzählt nicht nur scharfsinnig vom Alltag in der Sowjetunion, sondern entwirft lebendige Psychogramme von Menschen, die auf der Suche nach dem Glück sind. „Igrajem“ hat die Autorin als Motto vorangestellt, „wir spielen“ – und so kommt der Text auf den ersten Blick daher: spielerisch und leichtfüßig. Jedoch: Selten wurde ein Roman so hochreflektiert komponiert, selten wurden so elegant Binnenverweise eingeflochten. Der Nachhall dieses schmalen Buches ist enorm. (A.-D. K.)
Auszeichnungen u. a.: Grenzgänger Stipendium der Robert-Bosch-Stiftung, Alfred-Döblin-Stipendium (2014, 2019), Stipendium Deutscher Literaturfonds (2016/2017), Nelly-Sachs-Preis (2021), Chamisso-Preis/Hellerau, Rheingau Literatur Preis (2022).
Veröffentlichungen (Auswahl):
– „In einer Nacht, woanders“, Roman, Rowohlt Berlin, 2011
– „Vielleicht Marseille“, Roman, Rowohlt Berlin, 2015
– „Hinter Sibirien. Eine Reise nach Russisch-Fernost“, zus. mit H. Fritsch, Rowohlt Berlin, 2016
– „Hier sind Löwen“, Roman, S. Fischer, Frankfurt a. M. 2019
– „Zukunftsmusik“, Roman, S. Fischer, Frankfurt a. M. 2022