„Der Staat ist ein verlottert Boot/ wenn überhaupt so trägt er/ eine rote Mütze doch/ wen er greift den schlägt er/ auf der Stelle tot“: Mit diesem sarkastischen Epigramm hatte der Dichter Ernest Wichner im Jahr 1985 die gefährliche Lage der Poesie in der Diktatur des rumänischen „Conducators“ Nicolae Ceaus,escu beschrieben. Das autoritär-kommunistische Rumänien hatte Wichner, der 1952 in Guttenbrunn im Banat geboren wurde, zu diesem Zeitpunkt bereits verlassen und war nach Deutschland übergesiedelt. Der zweisprachig aufgewachsene Wichner begann bereits in seiner Schulzeit Gedichte in deutscher, rumänischer und englischer Sprache zu schreiben. Mit sieben anderen Literaturenthusiasten gründete er 1972 die „Aktionsgruppe Banat“, ein poetischer Freundeskreis, der gegen die auch kulturelle Despotie Ceaus,escu aufbegehrte und 1975 verboten wurde. In Berlin angekommen, entwickelte sich Wichner innerhalb kürzester Zeit zu einem der bedeutendsten Übersetzer und Vermittler der rumänischen und rumäniendeutschen Literatur. Als Leiter des Literaturhauses Berlin (2003–2017), als Ausstellungsmacher, Übersetzer und Herausgeber bedeutender Anthologien bahnte er den Weg zum Dialog mit der osteuropäischen Weltliteratur. Seine eigenen Gedichte hat er meist als „Erinnerungsreservoire“ angelegt, die ausgehend von konkreten Orten oder Landschaften ein poetisches Kraftfeld aufspannen – oder als lyrische Dialoge mit den Stimmen, Tonfällen und Motivrepertoires von Dichterfreunden, denen er zur öffentlichen Aufmerksamkeit verholfen hat. Ernest Wichners neues Gedichtbuch „Heute Mai und morgen du“ versammelt sein lyrisches Werk aus vier Jahrzehnten, vom Debüt „Steinsuppe“ (1988) bis zu den allerjüngsten, noch unpublizierten Gedichten. Es ist eine aufregende Expedition durch kleine Sprachen, Idiome und Dialekte – vom „Weißholzdialekt“ bis zum „Klausenburger Krautjargon“ – und eine geschichtsreflexive, mehrstimmige Reise über Länder- und Generationsgrenzen hinweg. (M. B.)
Auszeichnungen u. a.: Stipendium des Künstlerhauses Edenkoben (1990), Preis der Stadt Münster für Europäische Poesie zus. mit D. B˘anulescu (2005), Johann-Heinrich-Voß-Preis für Übersetzung (2020).
Veröffentlichungen (Auswahl):
– „Steinsuppe“, Gedichte, Suhrkamp, Frankfurt a. M. 1988
– „Alte Bilder“, Geschichten, Das Wunderhorn, Heidelberg 2001
– „Rückseite der Gesten“, Gedichte, zu Klampen!, Springe 2003
– Oskar Pastior: „Werkausgabe“, Bd. 1–6, Hrsg., Hanser, München 2003–2018
– „Neuschnee und Ovomaltine“, Gedichte, hochroth, Berlin 2010
– „Bin ganz wie aufgesperrt“, Gedichte, Das Wunderhorn, Heidelberg 2010
– Oskar Pastior: „sünden waffen sorgenfeig“, Hrsg., Hanser, München 2018
– Oskar Pastior: „Eine Sanduhr für Metaphern“, Hanser, München 2021
– „Heute Mai und morgen du“, Gedichte, Schöffling, Frankfurt a. M. 2022