In den Büchern von Julia Schoch ging es bisher meist um das Verschwinden: Da löste sich ein Staat auf, eine ganze Siedlung war plötzlich weg oder sogar eine Schwester. Im neuen Roman der Potsdamer Autorin dagegen taucht etwas auf, genauer gesagt: jemand. Eine Halbschwester nämlich, die eines Tages nach einer Lesung in einem norddeutschen Kulturhaus vor der Ich-Erzählerin steht und sagt: „Wir haben übrigens denselben Vater.“
Und auf den zweiten Blick geht es im Roman „Das Vorkommnis“ dann doch ums Verschwinden, weil alte Gewissheiten verloren gehen. Das Auftauchen der Halbschwester bringt alles ins Wanken und stürzt die Erzählerin in tiefe Verunsicherung. Eine wahre Geschichte, sagt Julia Schoch selbst – bei einer ihrer Lesereisen habe es tatsächlich diese Frau gegeben, und dieses Vorkommnis habe sie so beschäftigt, dass sie immer wieder darum kreiste. Warum ist die Schwester so empört über das Auftauchen der Halbschwester? Warum war die Affäre des Vaters mit einer anderen Frau ein Familiengeheimnis, das wissend verschwiegen wurde? Warum ist es irgendwann gar nicht mehr wichtig, ob die Frau wirklich eine Halbschwester ist? An einer Stelle heißt es: „Als ich darüber zu schreiben begann, dachte ich, ich würde ihre Geschichte erzählen, aber das kann ich nicht, ich schreibe nicht über sie.“ „Das Vorkommnis“ ist eine nachdenkliche und kluge Selbstbefragung über die Konstruktion eines Lebens – und der Auftakt einer Trilogie, in der Julia Schoch über Frauen schreiben möchte, die alte Bilder ablegen und mit einer neuen Sicht auf ihr Leben blicken. (A.-D. K.)
Auszeichnungen u. a.: Stefan-George-Preis für Übersetzer französischer Literatur (2004), Preis der Jury beim Ingeborg-Bachmann-Wettbewerb (2005), Aufenthaltsstipendium der Deutschen Akademie Rom Casa Baldi (2011), Kunststipendium des Landes Brandenburg (2020), Ehrengabe der Deutschen Schillerstiftung (2022).
Veröffentlichungen (Auswahl):
– „Der Körper des Salamanders“, Erzählungen, Piper, München 2001
– „Verabredungen mit Mattok“, Roman, Piper, München 2004
– „Mit der Geschwindigkeit des Sommers“, Roman, Piper, München 2009
– „Selbstporträt mit Bonaparte“, Roman, Piper, München 2012
– „Schöne Seelen und Komplizen“, Roman, Piper, München 2018
– „Das Vorkommnis“, Roman, dtv, München 2022