„Ich bin ein Kriegskind, ein Flüchtlingskind, ein Kind der deutschen Teilung.“
Mit 80 Jahren gewann Helga Schubert 2020 als bisher älteste Teilnehmerin den Ingeborg-Bachmann-Wettbewerb in Klagenfurt. Ihre Erzählung „Vom Aufstehen“, die sich mit der problematischen Beziehung einer Tochter zu ihrer durch den Krieg hart gewordenen Mutter auseinandersetzt, war eine Hommage an Ingeborg Bachmann und ihre berühmte Erzählung „Das dreißigste Jahr“. Das erklärte Helga Schubert in ihrer Dankesrede. Gelegenheit am Bachmann-Wettbewerb teilzunehmen hätte die Autorin schon 40 Jahre früher gehabt. Denn 1980 wurde sie von Günter Kunert zum Wettlesen eingeladen. Doch erhielt Helga Schubert damals mit fadenscheinigen Begründungen keine Ausreisegenehmigung aus der DDR. Da wurde sie schon seit vier Jahren vom Ministerium der Staatssicherheit observiert. Weil sie sich zusammen mit Ulrich Plenzdorf und Stefan Heym an einer Berlin-Anthologie beteiligt hatte, stand sie unter dem Verdacht der „staatsgefährdenden Hetze“. Erst in der Endphase der DDR durfte Helga Schubert nach Klagenfurt reisen. Doch diesmal nicht als Autorin, sondern von 1987 bis 1990 als kundiges Mitglied der Jury.
Als dann im Frühjahr 2021 nach 18 Jahren mit „Vom Aufstehen“ endlich wieder ein neues Buch von Helga Schubert erschien, war das das Comeback des Jahres. Der Roman in 29 Erzählungen berichtet in lakonischem Tonfall über die verschlungene Biografie der Autorin. „Eine Jahrhunderterzählung über Weltkrieg, Besatzung, Mauerbau, Stasi-Herrschaft, Wendezeit und Neuanfang, bei der man sich fragt, wie viel Geschichte in ein Leben eigentlich reinpasst“, urteilte der „Stern“. Monatelang stand „Vom Aufstehen“ auf der „Spiegel“-Bestsellerliste und wurde über 200.000 Mal verkauft. Nicht nur von den Leserinnen und Lesern geliebt, sondern durchweg auch von der Kritik gelobt, ja geradezu hymnisch besprochen. Denn die miteinander verbundenen Erzählungen lassen sich auch als ein großes, berührendes Trostbuch lesen. Erst nach dem Tod der Mutter konnte sich Helga Schubert mit einem Leben voller Widerstände und mit sich selbst versöhnen.
Geboren wurde sie 1940 in Berlin und wuchs in bescheidenen Verhältnissen auf, weil ihre Mutter, eine Bibliothekarin, alles Geld in Bücher steckte. Helga Schubert studierte Psychologie an der Humboldt-Universität zu Berlin und arbeitete lange als Psychologin im Universitätsklinikum. Seit den 1960er-Jahren schrieb sie literarische Texte. Doch erst 1975 erschien ihr erster Erzählband „Lauter Leben“, nachdem Sarah Kirsch sich für die Autorin stark gemacht hatte. Für das Manuskript ihres zweiten Erzählbandes bekam sie eine offizielle Rüge. Deshalb konnte „Das verbotene Zimmer“ 1982 zunächst nur in der Bundesrepublik erscheinen. Helga Schubert schrieb Hör- und Fernsehspiele, Reportagen und Kinderbücher. Ihr Buch „Judasfrauen“, mit 10 Fallgeschichten über weibliche Denunziation im Dritten Reich, durfte in der DDR nicht erscheinen und wurde erst 1990 publiziert. Die Zeit vom Mauerfall, den ersten freien Wahlen in der DDR und der Vereinigung gestaltete Helga Schubert aktiv mit. Sie war Pressesprecherin des „Runden Tisches“. 1992 publizierte sie zusammen mit Rita Süssmuth das Buch „Bezahlen die Frauen die Wiedervereinigung?“. Zusammen mit ihrem Mann lebt Helga Schubert heute in Neu Meteln bei Schwerin – in den 1970er-Jahren ein Aussteiger-Idyll in der DDR, in dem zeitweise auch Christa Wolf und Sarah Kirsch lebten.
Dirk Kruse
aktuell: Vom Aufstehen. Ein Leben in Geschichten. dtv. München, 2021