Faktizität ist nur eine mögliche Variante der Wirklichkeit
Das Spiel mit vermeintlichen Identitäten und Wahrheiten treibt sämtliche Helden von Norbert Gstrein um. 1961 in Mils bei Imst in Tirol geboren, studierte Gstrein zunächst Mathematik in Innsbruck, Stanford und Erlangen, bis er 1988 promovierte. Im selben Jahr erschien sein Erstling „Einer“, eine Heimaterzählung der speziellen Art, in der die Geschichte eines am Leben gescheiterten Mannes namens Jakob multiperspektivisch aufgefächert und immer wieder gebrochen wird – nur er selbst kommt nicht zu Wort. Eben dieser Jakob taucht mehr als 30 Jahre später in dem faszinierenden Künstlerroman „Der zweite Jakob“ (2021) über seinen gleichnamigen Neffen, einen sinistren Schauspieler, noch einmal auf. Wieder geht es um Verstellung und die Frage, wie man mit Zuschreibungen umgeht und welche Rollen man selbst wählt. Sein Interesse an politisch-historischen Fragestellungen stellte Gstrein in seinem auch auf formaler Ebene spannungsreichen Roman „Die englischen Jahre“ (1999) über das Schicksal jüdischer Emigranten in London unter Beweis, der ebenso von der Recherche und der Verführungskraft fremder Lebensläufe handelte. Der Jugoslawienkrieg mit seinen Verwerfungen und unsicheren Konfliktlinien stand im Mittelpunkt von „Das Handwerk des Tötens“ (2003) und fand in „Die Winter im Süden“ (2008) über die Vorgeschichte der kriegerischen Auseinandersetzungen in Kroatien während des Faschismus seine Fortsetzung. Welche Schubkraft Macht gewinnen kann, war das Sujet des ins Groteske schwappenden Verlegerromans „Die ganze Wahrheit“ (2010). „Eine Ahnung vom Anfang“ (2013) erzählte von einem Lehrer, der sich nach einer Bombendrohung über die unheimliche Wirkmacht irrationaler Welterklärungsmodelle in einer vermeintlich abgeklärten Umgebung bewusst zu werden versucht. In „Als ich jung war“ (2019) ließ Gstrein seinen Helden erneut in einem Tiroler Bergdorf aufwachsen, wo er als Hochzeitsfotograf seinem Vater zur Hand ging, bis er sich nach einem Unglück in die USA absetzte. Immer wieder arbeitet Norbert Gstrein mit Kippfiguren. Wahrnehmungen und Erinnerungen sind unzuverlässige Größen, Faktizität nur eine mögliche Variante der Wirklichkeit. Dies gilt auch für seine schillernde Porträtstudie des Schauspielers Jakob in „Der zweite Jakob“, dessen tatsächlicher Identität man sich nie gewiss sein kann. Bei einem zuerst spielerischen Gespräch mit seiner Tochter über nie verratene Geheimnisse vertraut er ihr an, dass er gemeinsam mit einer Kollegin in den Unfalltod einer Mexikanerin involviert war. Plötzlich gerät alles ins Rutschen. Vor allem Familienbeziehungen sind in dem glänzend konstruierten Roman besonders aufgeladen: Auf merkwürdige Weise von seiner Tochter Luzie abhängig, tritt Jakob in Konkurrenz mit deren Freund. Norbert Gstreins jüngster Roman „Vier Tage, drei Nächte“ (2022), der die Klaustrophobie des Corona-Lockdowns auf das Beziehungstableau überträgt, setzt die Auseinandersetzung mit der Abgründigkeit von Bindungen fort. Carl und Ines sind Geschwister, und Carl scheint niemand gut genug für seine Schwester. Verdecktes Begehren ist häufig der Motor für Norbert Gstreins Figuren, die immer wieder ungewollt Schuld auf sich laden und deren private Verstrickungen überraschende Einblicke in den Zustand der Gesellschaft erlauben.
Maike Albath
aktuell: Vier Tage, drei Nächte. Roman. Hanser. München, 22. Aug 2022