13:30 Uhr Fatma Aydemir
Dschinns. Roman. Hanser. München, Feb 2022
14:00 Uhr Ronja von Rönne
Ende in Sicht. Roman. dtv. München, Jan 2022
14:30 Uhr Simone Lappert
längst fällige verwilderung. Gedichte und Gespinste. Diogenes. Zürich, Feb 2022
musikalische Begleitung: Martina Berther (E-Bass)
15:00 Uhr Julia Schoch
Das Vorkommnis. Roman. dtv. München, Feb 2022
15:30 Uhr Thommie Bayer
Sieben Tage Sommer. Roman. Piper. München, Jun 2022
16:00 Uhr Ana Marwan
Wechselkröte. Ingeborg-Bachmann-Preis 2022 (46. Tage der deutschsprachigen Literatur Klagenfurt 2022)
16:30 Uhr Judith Zander
im ländchen sommer im winter zur see. Gedichte. dtv. München, Mrz 2022
17:00 Uhr Behzad Karim Khani
Hund, Wolf, Schakal. Roman. Hanser Berlin. 22. Aug 2022
17:30 Uhr Martin Kordić
Jahre mit Martha. Roman. S. Fischer. Frankfurt a. M., 31. Aug 2022
18:00 Uhr Alexa Hennig von Lange
Die karierten Mädchen. Roman. DuMont. Köln, 16. Aug 2022
Moderation und Gespräche: Maike Albath, Michael Braun, Anne-Dore Krohn, Dirk Kruse, Hajo Steinert.
Haupt- und Nebenpodien Schlossgarten bzw. Redoutensaal, Bühnenhaus und Oberes Foyer: FM-Anlage für Hörgeschädigte – Ausleihe an der Information
„längst fällige verwilderung“
Sie sind mit ihrer Familie oder allein aus Israel, Russland, dem Irak, Iran, sowie der Türkei nach Deutschland gekommen, freiwillig oder nicht, den Kopf voller schmerzhafter aber auch schöner Erinnerungen an das Land ihrer Geburt, ihrer Großeltern, ans Erwachsenwerden unter widrigen politischen Bedingungen, mit Geschichten im Kopf, die aufzuschreiben in einer Sprache, die sie sich erst aneignen mussten, nur eine Frage der Zeit war. So erscheinen sie von Jahr zu Jahr immer zahlreicher, Erzählungen und Romane von Autorinnen und Autoren mit Migrationsgeschichte. Sie tragen zur Horizonterweiterung in unserem literarischen Leben bei und bereichern die deutschsprachige Literatur unserer Gegenwart um Aspekte, Motive, Schreibweisen und Inhalte.
Das Poetenfest bemüht sich seit jeher, Autorinnen und Autoren mit internationalem Hintergrund einzuladen. Doch so fündig wie in diesem Jahr waren wir noch nie. Und es sind vor allem Autorinnen, die in diesem Jahr ihre männlichen Kollegen zahlenmäßig weit übertreffen. 14:6, um es sportlich auszudrücken. Werden sich spezifisch weibliche Perspektiven auf das Weltgeschehen ausmachen lassen?
Über eine literarische Entdeckungsreise mit Autorinnen und Autoren, die ihren ersten oder zweiten Roman vorlegen, hinaus, sind es auch gestandene Schriftstellerinnen und Schriftsteller, die wir zum Teil schon in früheren Jahren beim Poetenfest kennenlernen durften.
Abbas Khider (Sa, 17 Uhr) ist ein alter Bekannter beim Poetenfest. Der 1973 in Bagdad geborene, wegen seines Protests gegen das Regime Saddam Husseins mehrfach inhaftierte und gefolterte Sohn schiitischer Eltern, fand nach seiner Flucht über Jordanien und Libyen im Jahr 2000 Exil in Deutschland und schreibt heute in deutscher Sprache. In seinem neuen Roman „Der Erinnerungsfälscher“ erzählt er aus der Perspektive eines fiktiven Schriftstellers – ein raffiniertes Spiel mit der eigenen Biografie – von den Fallen der Erinnerung. Behzad Karim Khani (So, 17 Uhr), 1977 in Teheran geboren, 1986 mit seiner Familie nach Deutschland geflohen, heute in Berlin lebend und Betreiber einer Bar in Kreuzberg, erzählt in seinem literarischen Debüt „Hund, Wolf, Schakal“ vom Schicksal zweier Brüder, deren Mutter in der iranischen Revolution hingerichtet wird und die mit ihrem verzweifelten Vater nach Berlin flüchten. „Eine harte Welt, eine laute Geschichte, leise erzählt“, so der Autor selbst.
Fatma Aydemir (So, 13:30 Uhr), 1986 in Karlsruhe geboren, Kolumnistin u. a. bei der taz, deren Großeltern als Gastarbeiter aus der Türkei nach Deutschland gekommen waren, hatte 2017 ihr viel beachtetes Debüt in Erlangen vorgestellt. Auch in ihrem zweiten Roman „Dschinns“, einer Familiengeschichte, verfolgt sie anhand eines Einzelschicksals Spuren, die die Arbeitsmigration aus der Osttürkei hinterlassen hat, und die dazu führen, dass sich die Familie voneinander zu entfremden beginnt. Auch im literarischen Debüt „Die Optimistinnen. Roman unserer Mütter“ der türkischstämmigen Autorin Gün Tank (Sa, 15:30 Uhr) geht es um Folgen der Arbeitsmigration. Eine 22-jährige Arbeiterin, aus Istanbul in den 1970er-Jahren nach Deutschland gekommen, kämpft an der Seite ihrer Freundinnen für bessere Arbeitsbedingungen.
Nach Russland: An einem einzigen Tag spielt der fünfte Roman der 1971 in Moskau geborenen, seit 1979 in Berlin lebenden Autorin Katerina Poladjan (Sa, 15 Uhr). In „Zukunftsmusik“ hadern die Menschen mit den Unbilden des Alltags. Der leichtfüßig geschriebene, mit Anspielungen auf Heroen der russischen Literaturgeschichte angereicherte Roman macht deutlich, wie groß und divers dieses Russland ist. Slata Roschal (Sa, 17:30 Uhr) wurde 1992 in St. Petersburg geboren. 1997 mit ihren Eltern nach Deutschland gekommen, wuchs sie in Schwerin auf. „153 Formen des Nichtseins“ ist nach Veröffentlichungen von Lyrik und Kurzprosa ihr erster Roman. Er handelt von der schwierigen Identitätssuche einer jungen Frau, die, hin- und her-gerissen zwischen unterschiedlichen Sprachen, Kulturen, Religionen, Moralvorstellungen und Erwartungshaltungen, ihren eigenen Weg findet. Aus Osteuropa stammen auch die Eltern des in Köln lebenden Autors Martin Kordić (So, 17:30 Uhr). In seinem neuen Roman „Jahre mit Martha“ erzählt er eine Liebesgeschichte, wie sie sich vielleicht nur in einem Einwanderungsland wie Deutschland zutragen kann. „Ein mitreißender Roman über Machtverhältnisse und über die Frage nach dem Gleichgewicht in der Welt“, verspricht der Verlag.
Ana Marwan (So, 16 Uhr), 1980 im ehemaligen Jugoslawien geboren, ist eine Grenzgängerin, die in zwei Sprachen publiziert: Deutsch und Slowenisch. Sie lebt auf dem Land zwischen Wien und Bratislava. Für einen Auszug aus der unveröffentlichten Geschichte „Wechselkröte“ erhielt sie in diesem Jahr den Ingeborg-Bachmann-Preis. Eine von ruhigen Naturbeschreibungen getragene, aus einer dezidiert weiblichen Perspektive geschriebene und vor sich hingleitende Prosa, eine Meditation gleichsam über das Leben in Einsamkeit, Zurückgezogenheit, im Wartestand. Shelly Kupferberg (Sa, 14 Uhr), 1974 in Tel Aviv geboren, aufgewachsen und wohnhaft in Berlin, routinierte Moderatorin und freie Redakteurin bei verschiedenen Rundfunkanstalten, erzählt unter Zuhilfenahme von Familienbriefen, Fotos und anderen Dokumenten in ihrem ersten Roman „Isidor. Ein jüdisches Leben“ die Geschichte eines charismatischen Urgroßonkels, einen von Höhenflügen und in Folge der Naziherrschaft von Stürzen geprägten Lebensweg von Ostgalizien nach Wien, über Budapest nach Hollywood.
Eine unermüdliche Recherche über das Leben einer besonderen Persönlichkeit liegt auch dem neuen Roman von Alexa Hennig von Lange (So, 18 Uhr) zugrunde. „Die karierten Mädchen“ ist der erste Teil einer Trilogie über die Suche nach der verlorenen Zeit und das Finden einer im Erzählen vor der Vergessenheit bewahrten, ebenso verletzlichen wie tapferen Frau, einer Kinderheim-Leiterin, die ein jüdisches Waisenkind vor Nazi-Funktionären versteckt. Den Anfang einer Trilogie mit dem Gesamttitel „Biographie einer Frau“ hat auch die 1974 in der DDR geborene und zweifellos zu den starken Stimmen unserer Gegenwartsliteratur zählende Julia Schoch (So, 15 Uhr) vorgelegt: „Das Vorkommnis“ ist ein hervorragendes, erinnerungserfülltes Zeugnis autofiktionalen Schreibens. Schlüsselerlebnis ist die zufällige Begegnung zweier Frauen, von denen eine behauptet, sie hätten denselben Vater.
Wer dick ist, entzieht sich dem gängigen Ideal, protestiert gegen Schönheitsideale und Fitnesswahn und schlägt alle Empfehlungen der Medizin in den Wind. In ihrem neuen, autobiografisch grundierten Roman „Lügen über meine Mutter“ geht die Schriftstellerin Daniela Dröscher (Sa, 16:30 Uhr) dem Schicksal ihrer Mutter in den 1980er Jahren nach.
Was wäre das Erlanger Poetenfest ohne Shooting-Stars? Als solche gingen die 1974 geborene Stefanie vor Schulte, die 1986 geborene Theresia Enzensberger und die Jüngste, die 1992 geborene Ronja von Rönne in die jüngste Literaturgeschichte ein. Nach vergeblichen Versuchen, für ihre Prosa einen geeigneten Verlag zu finden, erschien erst vor einem Jahr der Debütroman „Junge mit schwarzem Hahn“ von Stefanie vor Schulte (Sa, 18:30 Uhr). Die Kritik überschlug sich vor Begeisterung. Nur ein Jahr später erscheint nun ihr zweiter Roman: „Schlangen im Garten“ handelt von nicht mehr und nicht weniger als vom Überleben. Es muss doch weitergehen für die Familie, wenn die Mutter plötzlich verstorben ist!
Vom Überleben in einer von ökologischen Katastrophen heimgesuchten Welt handelt der zweite, mit Zivilisationskritik nicht sparende Roman von Theresia Enzensberger (Sa, 16 Uhr). „Auf See“ ist dank wissenschaftlicher Recherchen und ihrer geschickt verdeckten Einarbeitung in die spannende Handlung eine fundierte Beschwörung des Anfangs und Endes von Utopie. Ist das Ende der Zivilisation schon in Sicht? „Ende in Sicht“ heißt der jüngste Roman von Ronja von Rönne (So, 14 Uhr). Zufall und Schicksalsergebenheit bringen zwei depressive Frauen – die eine fast siebzig, die andere erst fünfzehn – zusammen. Beide sind lebensmüde und planen den Suizid. Doch unversehens geht die Lebensreise für beide weiter.
Hier die Shootingstars, dort ein – freilich jung gebliebener – Oldie, ein Leuchtturm. Musiker war er, Maler ist er immer noch, wenn er nicht schreibt, doch wenn er schreibt, malt er mit Worten: Thommie Bayer (So, 15:30 Uhr) ist nach längerer Abstinenz wieder in Erlangen und stellt seinen neuen Roman vor, einen Briefroman, das kommt nicht allzu oft vor in der Gegenwart. In „Sieben Tage Sommer“ scheint die Sonne, es fließt der Champagner, es fließt der Wein, es fließen keine Tränen, es wird deutlich weniger gelitten als bei Goethe.
Hajo Steinert
In ihrem neuen Gedichtband „längst fällige verwilderung“ arbeitet die Schweizer Schriftstellerin Simone Lappert mit großer Sorgfalt daran, eine „vollkommen sinnliche Rede“ herzustellen. Ihre Gedichte sind kompakte „Selbstporträts“, Verse über Aufbrüche und Abschiede, die in einer charmanten Spoken Poetry-Performance zelebriert werden. Begleitet wird sie dabei von der vielseitigen Zürcher E-Bassistin Martina Berther (So, 14:30 Uhr). Eine Sandschliere auf dem Fenster, ein vorüberschwebendes Flimmerhaar oder der Schwirrflug eines Vogels: Solche kleinen, ephemeren Dinge und Ereignisse stehen im Zentrum von Jürgen Nendzas poetischer Aufmerksamkeit. In seinem neuen Gedichtbuch „Auffliegendes Gras“ geht das Ich durch die vom Bergbau völlig veränderte Landschaft des Ruhrgebiets. Natur ist kein idyllischer Rückzugsort mehr, sondern ein von „Rüttelverdichtung“ und „schaufelnden Schaufeln“ strapaziertes Territorium, eine industriell „ausgekohlte“ Welt (Sa, 14:30 Uhr).
Ernest Wichners neuer Band „Heute Mai und morgen du“ versammelt sein lyrisches Werk aus vier Jahrzehnten, vom Debüt „Steinsuppe“ (1988) bis zu den allerjüngsten, noch unpublizierten Arbeiten. Es ist eine aufregende Expedition durch kleine Sprachen, Idiome und Dialekte – vom „Weißholzdialekt“ bis zum „Klausenburger Krautjargon“ – und eine geschichtsreflexive, mehrstimmige Reise über Länder- und Generationsgrenzen hinweg. (Sa, 18 Uhr). In ihrem neuen Gedichtbuch „im ländchen sommer im winter zur see“ hat Judith Zander eine Konstellation entworfen, in der sich ein Liebespaar fluider Identität durch Sehnsuchtslandschaften an der Ostseeküste bewegt und dort von einem unreglementierten Leben träumt. Es sind die Sehnsuchtslinien, die „desire lines“ zweier Liebender. Und sie werden von der Autorin eingebunden in ein anmutiges Vexierspiel mit Motiven der Liebeslyrik, des Minnesangs und der barocken Vergänglichkeits-Metaphorik (So, 16:30 Uhr).
Michael Braun